29 Mai Das Gute hieran
Schon schwingt sie wachgemut in den Tag. Guter Morgen. Aufschütteln, Lüften, Federn und Körper. Die alte Balkontür knarzt, blitzeblank das Doppelglas in den vertrockneten Kittrinnen. Atemzug, tief, Vogel singt auf Krüppelkiefer. Die Hinterhausschafe schlafen noch, überhaupt hat sich der Ablauf der Welt verschleppt in der Pandemie. So anders sie selbst, nicht sogleich, aber jetzt endlich. Selbst die Gymnastik ist zurückgekehrt als fester Teil ihres Morgens. Als hätte es die Zeit der Verformung nie gegeben, die sumpfige Breiigkeit der verlorenen Tage. Ein neuer Geist.
Wacht auf. Denkt selbst. Spannend steht sie über der Tastatur. Die Wahrheit schreibt sich von selbst, es ist ihre. Wie anders noch früher, all die endlos zaghaften Versuche, ihr Stochern nach Spüren und Erfüllung in die Welt zu vermitteln. Dreimal im Monat vielleicht noch ihr Kommentar, da, wo er am nötigsten war. Die bittere Ahnung, dass es so viel zu sagen gäbe und so wenig Kraft. Zum Schluss spärliche Links zu Meditation und Anleitung, zwei, drei Likes in der Reaktion, dann Schweigen.
Sie lacht, so wild. Sie hatte die Mutlosigkeit der Lämmer für ihre eigene gehalten. Nie mehr. Wie kann man nicht sehen wollen! Knickt sie nach vorn, das Gesicht an den Bildschirm. Unter dem Hanfstoff schlägt die Hüfte ein Röllchen. Dieser Wandel steht noch an. Die Denke geschärft, das Fleisch wird folgen. Wacht auf! Trägheit ist Gehorsam, zweimal, zehnmal, tausendmal am Tag. Und sie erkannte sich selbst, deutlich wie nie, vor dem grauschlierigen Hintergrund der amorphen Anderen. Mut, sie ist Mut, schwer erträglich für die Mutlosen. Erste Drohungen gibt es bereits, die Klarheit dieser Tage zu beenden. Das wird sie nicht zulassen. Sie bleibt wach, hört Ihr, hier ist eine vitale Zelle, bereit, Gesundung in den verderbten Weltenkörper zu strahlen. Und das gibt sie nicht mehr aus der Hand, nie mehr, freiwillig.