Ich wollte Dir nur alles Gute…
(lauscht)
Ja, danke, war schön. Und bei Euch?
(lauscht)
Na, siehste. Halt Dich tapfer. Ist halt diesmal alles anders.
(lauscht)
Nee, der ist da. Wie immer.
(lauscht)
Nee, wie denn? Ist aber für alle so. Ist die einzige Gerechtigkeit dabei.
(lauscht)
So machen wir das. Und wenn wir uns nicht mehr sprechen, (…)*: Guten Rutsch.

(Auflegen. Nächste.)

(…)* Hier fällt manchmal der Name des Gegenübers. Muss aber nicht.

„Was hätte es alles werden können. Wenn nur ein paar wildentschlossene Freudenmenschen mitgestaltet hätten.“ Er wurd schon leiser: „Und nicht unsere müden Kaufmannsseelen einfach weitergemacht.“

„Ja, was denn? Was denn genau?“ nagelte ihr Widerborst zurück, der in solchen Momenten übernahm.

„Werden wir nicht erfahren“, marmelte es saftlos aus ihm, während er zum Ausgang blickte. Der ja auch nur auf einen weiteren Flur führte.

Die Glocken hüpfen bimmelnd in der Luft, als er die Tür unter ihnen aufschwingt. Und noch einmal und wieder. Weit kommt er nicht nach draußen, der Klang, der Vorhang an Nässe schluckt ihn schon an der Schwelle. Regenluft duftet in den Laden. Einmal noch Schwingen und Klingen – nicht, dass er die dünnen Klöppel gerade jetzt in den Bruch getestet hat. Sie bimmeln wach und aufgeregt.

Mehr kann er nicht tun. Er ist so müd wie noch nie. Als sie alle zuhause bleiben mussten, da war er auch in den Laden gegangen, jeden Tag. Zum Trotze. Keiner hatte es mokiert, es gab auch keinen simpleren Ort der Isolation. Niemand kam zu ihm, niemand wollte, freilich zu den anderen auch nicht, aber die Abwesenheit von Neid ist ja noch keine Rettung. Für ihn und seinen Ort, der nur Sinn machte, wenn man ihn benutzte, und der nur kostete, wenn zu wenige kamen. Und es kam keiner, keine, nicht ein Schwein, weil es ihnen ähnlich erging, was hilft ihm das, er ist allein, und wer es jetzt ist, der wird es lange bleiben, die arme Sau.

Seine erste Freude über die Pause in der Welt, so unglaublich weit zurück. Am Anfang und, manchmal noch, inmitten der Kalenderlosigkeit der isolierten Tage, hatte es eine Freiheit gehabt, sich nicht veräußern zu müssen, nichts niemandem nirgendwohin, dass es in ihm jubelte und streckte. Ein Fenster der Muße, ein Balsam, ein Freispiel. Es hätte so bleiben können, bitte bitte. Nein, er war kein Träumer, schon lange nicht. Und seine Vermieterin sicher nie. Und dann die Wucht, der Unglaube, wie schnell sich sein Fundament verflüssigt. Die Ohnmacht, dass wirklich niemand auch nur etwas an Verbindlichem wusste, auch nicht die, die es zu wissen hatten. Der Hass auf sie, trotzdem. Telefonieren, warten, reden, sich vertrösten lassen, Anträge stellen, fragen, warten, ja, wie alle, wie alle anderen, auch die, die nicht mehr zu ihm kamen. Das schwammige Schuldgefühl auch, dass er und alle, dass wir es nicht längst gerichtet hatten, mit der Gerechtigkeit in der Welt, als noch alle Zeit dafür war. Es war ja nicht so, dass sie träge gewesen waren in den fetten Jahren, im Gegenteil, stets im Flow, sich sorgend, dass die eigenen Dinge sichtbar blieben, in der persönlichen Nische des Handels, selbstgegraben.

Eine Wertschätzung hatte er, hatte er immer gedacht. In der Welt, für sich und seine Dinge. Allein dafür, dass er so einen Ort geschaffen hatte. Dass er seine Dinge wirklich liebte, die er hier feilbot. Bei allen Kompromissen, die er vorher schon eingegangen war, Umstände in Kauf nahm, die er die nicht weniger zumutbar waren als das, was jetzt widerfuhr. Für die Dinge, für seine Liebe, für die Wertschätzung und die Krümel, die vom Tische fielen und manchmal auch reichlich. Aber all das, das Vorher, das war freiwillig gewesen. Und das Freiwillige des Zwangs machte den Unterschied.

Nicht mal von seinem speziellen Ding wollt er zuletzt noch sprechen, nurmehr vom Wert im Großen, Ganzen. So wie er nicht mehr an den Wertschatz glaubte, so musste doch der Glauben wiederkehren. Ohne – da würden sie alle schrumpfen, auch wenn sich alles wieder öffnete. Er sprach über das Ding an sich in seinem heilig Geiste. Und dann war doch ein Geld gekommen, ein Irgendwas. Eine Wertstellung, plötzlich Zahl auf dem Konto, für Miete und drei Tage. Und immer noch wusste es keiner, wie lang, und es kam noch immer niemand her, wie lang auch immer, bange lang.

Und da war so viel Wut über das Falsche. Und soviel Hitze über die vertane Chance, die vor ihnen lag und fast schon wieder hinter, weil alles neu anlief auf allen alten Wegen. Er trat über die Schwelle in die noch feuchte Aura Welt und spürte seine Wahrheit kommen. In ihm stieg sie auf, aus der Finsternis des Unteren, wie der mächtige Gasfurz eines nervösen Geysirs in der Tiefsee, so drückt sie nach oben, hinaus, hinaus, hinaus aus ihm. Und da ist sie. Doch kein Grollen der Natur, sondern das panische Gezeter eines Spätzchens in der Vogelschlinge, in Flatterhaft, so gellend hoch sein Stimmchen nun wie nie: „Mein ängstlich Herz! Es schlägt mich tot!“

Und ein paar Menschen hören ihn, sie sind ja wieder da, weil es sich doch gelockert hat, und einer schaut ihn an, von vorn, so nah und dicht und gibt ihm Geld bar in die Hand und sagt: „Stimmt so. Und Zuversicht.“

Und er schaut nahe und zurück und gibt dem anderen ein Ding. Und sie erkannten einander. Denn das ist die Hoffnung, unbezahlbar, aber manchmal schon und immer bis zum Schluss.

Schon schwingt sie wachgemut in den Tag. Guter Morgen. Aufschütteln, Lüften, Federn und Körper. Die alte Balkontür knarzt, blitzeblank das Doppelglas in den vertrockneten Kittrinnen. Atemzug, tief, Vogel singt auf Krüppelkiefer. Die Hinterhausschafe schlafen noch, überhaupt hat sich der Ablauf der Welt verschleppt in der Pandemie. So anders sie selbst, nicht sogleich, aber jetzt endlich. Selbst die Gymnastik ist zurückgekehrt als fester Teil ihres Morgens. Als hätte es die Zeit der Verformung nie gegeben, die sumpfige Breiigkeit der verlorenen Tage. Ein neuer Geist.
Wacht auf. Denkt selbst. Spannend steht sie über der Tastatur. Die Wahrheit schreibt sich von selbst, es ist ihre. Wie anders noch früher, all die endlos zaghaften Versuche, ihr Stochern nach Spüren und Erfüllung in die Welt zu vermitteln. Dreimal im Monat vielleicht noch ihr Kommentar, da, wo er am nötigsten war. Die bittere Ahnung, dass es so viel zu sagen gäbe und so wenig Kraft. Zum Schluss spärliche Links zu Meditation und Anleitung, zwei, drei Likes in der Reaktion, dann Schweigen.
Sie lacht, so wild. Sie hatte die Mutlosigkeit der Lämmer für ihre eigene gehalten. Nie mehr. Wie kann man nicht sehen wollen! Knickt sie nach vorn, das Gesicht an den Bildschirm. Unter dem Hanfstoff schlägt die Hüfte ein Röllchen. Dieser Wandel steht noch an. Die Denke geschärft, das Fleisch wird folgen. Wacht auf! Trägheit ist Gehorsam, zweimal, zehnmal, tausendmal am Tag. Und sie erkannte sich selbst, deutlich wie nie, vor dem grauschlierigen Hintergrund der amorphen Anderen. Mut, sie ist Mut, schwer erträglich für die Mutlosen. Erste Drohungen gibt es bereits, die Klarheit dieser Tage zu beenden. Das wird sie nicht zulassen. Sie bleibt wach, hört Ihr, hier ist eine vitale Zelle, bereit, Gesundung in den verderbten Weltenkörper zu strahlen. Und das gibt sie nicht mehr aus der Hand, nie mehr, freiwillig.

Keiner kommt hier raus, aus der kopfsteinigen Quergasse, wenn er sich nicht scheppermutig mit der Schnauze in den Hauptverkehr schiebt, Zentimeter bange Einsicht gewinnend. Die blickdichte Reihe parkenden Metalls auf dem Seitenstreifen zwingt mich dazu. Du siehst erst, ob da wer kommt, wenn du soweit vorgerollt bist, dass du ihn schon zum Schlenker zwingst. Von links strömen sie, einer hupt. Die Fahrradfahrer sind da deutlicher, sie kämpfen sich eh bergauf und staken grimmig den Dreihandbreit-Zusatz um dich herum. Stich geradeaus durch die halbe Lücke, zum Mittelstreif mit Durchfahrt und Schienen, wieder stehen, jetzt kommen sie von rechts, aber die Sicht ist frei, die Radler wehend im Abwärtstempo. Einfädeln, im Fluss und weg.

Heute nicht. Es ist Sonntagfrüh, kaum wer auf der Straße sonst, für irgendwas ist die Innenstadt ab Alexanderplatz auch gesperrt, hat es irgendwo geheißen. Und sie nutzen Straßenbahnen als Zusatzbarrieren: Auf der Durchfahrt steht sie, mitten auf der Strecke, Haltestellen 100 Meter weg. Türen sind geöffnet, der Fahrer sitzt vorn auf der Treppe seines Ausstiegs. Er schaut in den Himmel, hellblau. Kein Laut, ich hab die Fenster unten. In der zweiten Tür eine schwere Frau, sitzt auch, pumpt Luft, reibt sich die Augen, hinter ihr ein Mensch, Hand auf ihre Schulter. Davor ein Rollstuhlfahrer, steht dort, wo ich sonst immer quere, raucht mit Hingabe. Noch zwei, drei Menschen, stilles Leben, Einhalt.

Jetzt erst, jetzt erst, jetzt erst: sehe ich es, das Auto auf dem Bug, von der Bahn in der Durchfahrt ergriffen, problemlos die Meter zum Straßenschild transportiert und es dorthinein geschoben. Dann müssen die Bremsen gegriffen haben; bestimmt hat es gekreischt, kein Wunder, dass jetzt alle die Stille pflegen. Es ging gut. Nur Blech ist verbogen, Autotüren stehen offen und können nicht mehr geschlossen werden ins krumme Ganze. Airbags füllen Fahrer- und Beifahrerplatz. Einer der Insassen sitzt, Füße nach draußen, auf der Rückbank. Er vertraut dem Auto in der Schwebe; die Nase der Bahn hält es in der Luft. Vor ihm steht eine Frau und streckt sich in die Brise. Ruhe, Erleichterung, die Körper sind ganz geblieben. Niemand muss eilen, niemand in Not. Hilfe kommt, alles wird. Wie klar die Menschen sind, aus dem Fluß genommen.

„Wie soll ichs Dir denn mit Sicherheit sagen“, knarzte Almut ihn an, „ob wir den Drachen hier im Gebüsch finden? Du hast doch auch nicht gesehen, wohin er geflogen ist, mein lieber Johannes.“ Sie seufzte. „Dass wir aber auch zugleich einen steifen Nacken kriegen und nicht nach oben gucken können!“